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Zusammen der Angst das Gewicht nehmen

von Annegret Corsing

In diesem Jahr setzt sich die jährliche „Aktionswoche seelische Gesundheit“ vom 10. bis 20. Oktober 2023 mit dem Thema Ängste in Krisenzeiten auseinander. Es soll um den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Ängsten und der allgemeinen Unsicherheit und Überforderung angesichts der globalen Krisen gehen.

Wir als erfahrungsexpert*innen setzen uns anlässlich des Mottos „Zusammen der Angst das Gewicht nehmen” aktiv mit dem Thema Angst auseinander und gestalten dazu unterschiedliche Veranstaltungen – und auch diesen Artikel.

Inhalt

Was ist Angst?
Wie äußert sich Angst?
Ist Angst angeboren oder erlernt?
Kann Angst hilfreich sein?
Was ist der Unterschied zwischen Angst und einer Angststörung?
Wie kann ich Ängste überwinden?
Wie kann ich eine Person unterstützen, die Angst hat?

Was ist Angst?

Angst gehört zu unseren Grundgefühlen, auch Basisemotionen genannt. Nach Martin Dornes1 sind die Basisemotionen:

  • Freude
  • Interesse/Neugier
  • Überraschung
  • Ekel
  • Ärger
  • Traurigkeit
  • Furcht/Angst
  • Scham und Schuld

Angst beschreibt dabei die Reaktion unserer Psyche auf die Wahrnehmung einer realen oder vermuteten Bedrohung.

Wie äußert sich Angst?

Angst bewirkt im Körper unterschiedliche Reaktionen: Die Möglichkeiten der Flucht, des Kampfes oder der Erstarrung („flight, flight, freeze“).

In unserem Nervensystem passiert dabei folgendes: Die Amygdala (auch: Mandelkern, ist an emotionalen Reaktionen sowie der Speicherung von Gedächtnisinhalten beteiligt) erreicht ein Signal, welches sie an die Nebennieren weiterleitet. Diese schütten die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus, während die Leber Zucker (Energie) produziert. Der Körper bereitet sich also auf eine Aktion vor (Kampf, Flucht).

Als Bestandteil des limbischen Systems ist die Amygdala für die emotionale Bewertung der Situation verantwortlich – sie steuert also die Angst.

Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Domschke
Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg

Zu den körperlich wahrnehmbaren Symptomen von Angst zählen (treten nicht unbedingt alle gemeinsam auf):

  • eine flachere Atmung
  • ein beschleunigter Herzschlag
  • Schwitzen
  • Zittern
  • Druckgefühl auf Brustkorb und Hals
  • flaues Gefühl im Magen bis Übelkeit
  • Schwindel

Bleiben eine Kampf- oder Flucht-Reaktion aus, kann die körperliche Reaktion auch ins Gegenteil umschlagen. Der Herzschlag fällt ab, die Muskeln versteifen sich. Der Körper fällt in eine Starre.

Ich kenne die körperlichen Symptome und das Erstarren gut. Im Sommer 2004 entwickelte ich – für mich ganz plötzlich – eine Angststörung. Die Angst traf mich oft völlig unerwartet und in der Öffentlichkeit. Plötzlich raste mein Herz, ich atmete flach, fing an zu schwitzen. Ich konnte mich kaum bewegen, erstarrte. Zu Beginn war ich teils minutenlang bis eine halbe Stunde so eingefroren.

Ist Angst angeboren oder erlernt?

Es gilt: beides. Grundsätzlich sind Angst als Gefühl und die Fähigkeit, sie zu empfinden genetisch in uns angelegt. Es gibt allerdings keine starre Vererbbarkeit in dem Sinne, dass jemand besonders ängstlich oder mutig geboren wird und sich dies nie ändern wird.

Wir passen uns als Menschen immer wieder an unsere Umwelt und ihre Gefahren an, so dass wir auch lernen können, neue Gefahren mit einer entsprechenden Angstreaktion zu beantworten und uns davor zu schätzen oder Ängste in Bezug auf andere Situationen abzubauen. Unsere Angst ist also flexibel und wandelbar. Und jede Angstreaktion ist so individuell wie wir von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sind.

Das Erlernen von Angst kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen:

  • Konditionierung: Wir lernen, dass ein Verhalten eine bestimmt Konsequenz hat. Erlebe ich wiederholt die gleiche Situation und dabei eine Gefahr oder Verletzung, kann sich daraus eine Angst entwickeln, die konkret mit dieser Situation zusammenhängt.
  • Imitation: Beobachten wir bspw. als Kind, wie ein anderer Mensch Angst in Bezug auf eine bestimmte Situation zeigt, löst die gleiche Situation im Kind später eventuell die gleiche Angst aus.

Kann Angst hilfreich sein?

Angst als Reaktion auf das Wissen oder die Vermutung einer drohenden Gefahr ist eine lebensnotwendige Reaktion. Sie versetzt uns körperlich in die Lage, uns zu verteidigen und in die Abwehr zu gehen. Adrenalin und Cortisol führen zu einer verstärkten Blutversorgung der Muskeln. Wir sind wachsam, der Körper macht sich bereit für Kampf oder Flucht. Die Angst ist damit ein ganz wichtiger Schutzmechanismus für uns.

Ein gewisses Maß an Angst ist sogar hilfreich, denn sie schärft unsere Sinne, macht uns wachsam und kann uns für den Moment leistungsfähiger machen. Das kann zum Beispiel in Prüfungssituationen hilfreich sein.

Auch haben viele Menschen Spaß an ein wenig Nervenkitzel, wenn sie bspw. ins Gruselkabinett gehen, einen Horror-Film schauen oder Fallschirm-Springen! An unsere Grenzen zu gehen und unsere Angst zu überwinden, verleiht uns mitunter Selbstvertrauen und Stolz.

Was ist der Unterschied zwischen Angst und einer Angststörung?

Angst kann über das normale, angeborene Gefühl einen Krankheitswert entwickeln. Wenn sie sehr lange andauert, häufig auftritt, auch dann, wenn gar keine Gefahr droht und wenn sie über ein Maß hinaus geht, das der Mensch in dem Moment handhaben kann, spricht man von einer Angststörung.

Eine Angststörung kann den Alltag der betroffenen Person stark beeinträchtigen. Häufig tendieren sie dazu, die Angst zu vermeiden und schränken damit u.U. ihr Leben sehr ein.

Meine Angststörung bezog sich auf den Aufenthalt in geschlossenen Räumen und/oder mit vielen Menschen und wenn ich den Ort nicht jederzeit verlassen konnte. Ich erlebte bspw. große Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln – Bus, Bahn, Tram. Je voller diese im Berufsverkehr wurden, desto schlimmer wurde es für mich. Die Zeit zwischen den Stationen schien endlos zu sein. Oft bin ich viel früher ausgestiegen, als ich wollte, weil die Angst zu groß wurde. Sofort nach dem Aussteigen beruhigte ich mich.
Das führte jedoch leider in der Konsequenz dazu, dass ich irgendwann kaum noch öffentliche Verkehrsmittel benutzte und stattdessen kilometerweit durch die Stadt lief.

Wie kann ich Ängste überwinden?

Beim Überwinden von Angst spielt einer der Resilienzfaktoren eine ganz besondere Rolle: die Akzeptanz. Es ist wichtig anzuerkennen, dass Angst eine wichtige Funktion in unserem Leben erfüllt und dazu gehört. Denn wie oben beschrieben, spielt sie u.U. eine überlebenswichtige Rolle, wenn es darum geht und zu schützen und zu verteidigen. Es ist also auch nicht das Ziel, völlig angstfrei zu werden. Wir können jedoch lernen, die Angst in unserem Leben zuzulassen.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Wir haben immer eine Wahl, wie wir mit einem Gefühl umgehen wollen. Wir SIND nicht unser Gefühl, wie HABEN ein Gefühl. Diese Erkenntnis bringt einen Perspektivwechsel mit sich. Nicht mein Gefühl beherrscht mich, ich beherrsche das Gefühl. Es ist die eigene Entscheidung, mit der Angst zu leben oder sie loszulassen.

Stell dir vor, du hast einen Splitter im Finger. Entweder versuchen wir, die Stelle nicht zu berühren, damit der Splitter keine Schmerzen verursacht, oder wir entfernen den Splitter und befreien uns dauerhaft davon.

Der Weg aus der Angst führt mitten durch sie hindurch.

Eine meiner Therapeutinnen

Wir können uns nicht darum drücken, bestimmte Gefühle zu fühlen, die wir nicht haben wollen. Angst, Scham, Hilflosigkeit – gerne würden wir vielleicht ganz darauf verzichten und sie umschiffen, wann immer es geht. Doch umgekehrt wird ein Schuh draus:

Der Weg zur Heilung von der Angststörung war der, mich mit Akzeptanz meiner Angst zu stellen. Ihr die Erlaubnis zu geben, zweitweise da zu sein. Um sie mir genauer anzusehen. Auch, um zu lernen, dass ich ihr gar nicht so hilflos ausgeliefert war, wie ich dachte. Durch Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Meditation lernte ich, die Angst als Gefühl zunächst im Körper zu akzeptieren. Die körperliche Reaktion wahrzunehmen und dass nichts weiter passiert. „Mein Körper erlebt Angst – das ist ok. Ich überlebe das.“ Und gleichzeitig mental wahrzunehmen: Es gibt gerade keine reale äußere Bedrohung.
So saß ich eben noch eine Station länger in der Bahn – und dann noch eine und noch eine – und schaute mir die Angst an. Das war schwer, keine Frage! Eines Tages merkte ich jedoch, dass die Angst auch in der Situation runter gehen kann. In der Bahn und ohne dass ich ausgestiegen war! Noch lange danach hatte ich noch immer Angstsituationen in der Bahn, doch ich konnte immer mehr meinen Umgang damit verändern und ihnen nicht die Macht über mein Leben überlassen. Die Angst beeinträchtigte meine Leben nicht mehr akut.

Wie kann ich eine Person unterstützen, die Angst hat?

„Du brauchst doch keine Angst zu haben!“ Das ist ein beliebter Satz, um Menschen mit Angst zu „trösten“. Leider ist er überhaupt nicht hilfreich. Im Gegenteil: er invalidiert (erklärt für nichtig) die Wahrnehmung der anderen Person.
Oft verwenden wir ihn, um uns selbst zu schützen. Wir wollen nicht, dass es der anderen Person schlecht geht (weil es uns vielleicht damit selbst schlecht geht und wir uns hilflos fühlen?) und erklären uns selbst und der anderen Person ganz logisch, dass es ja keinen Grund gibt für Angst. Prima, Problem gelöst?!

Wenn jemand zu mir sagte, es gäbe keinen Grund für meine Angst, hat das eine große Einsamkeit in mir ausgelöst – und noch mehr Angst. Denn plötzlich war ich auch noch falsch: Ich hatte unnötig Angst, was stimmte nicht mit mir?

Egal ob durch eine reale oder vermutete Bedrohung – die Angst der anderen Person ist real. Sie braucht jetzt allem voran Akzeptanz und Mitgefühl. Und das erfordert Mut und eine gewisse Stärke. Es ist nicht leicht, sich mit Mitgefühl neben eine andere Person zu setzen und zu sagen:

Ich sehe und fühle, dass es gerade sehr schwer für dich ist und ich bin hier und halte es mit dir.
Das ist Mitgefühl.

Eine offene, akzeptierende und validierende Haltung ist die beste Unterstützung, die wir geben können.

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  1. Martin Dornes (1995): Gedanken zur frühen Entwicklung und ihre Bedeutung für die Neurosenpsychologie. In: Forum der Psychoanalyse 11, S. 27–49.) ↩︎

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