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Kraftvolles Selbstmitgefühl: 
Warum das Pendant zum achtsamen Selbstmitgefühl so wichtig für uns ist.

Achtsames Selbstmitgefühl bedeutet, uns selbst in schwierigen Zeiten, wenn wir scheitern, Fehler machen oder uns in einer Art verhalten, die uns nicht gefällt, in der gleichen verständnisvollen und unterstützenden Art und Weise zu begegnen, wie wir einem guten Freund oder einer guten Freundin begegnen würden. 


Achtsames Selbstmitgefühl meint eine innere Haltung, die von Freundlichkeit, Verständnis und Fürsorge uns selbst gegenüber geprägt ist – besonders in schwierigen Momenten des Lebens. Neben dieser sanften und achtsamen Seite des Selbstmitgefühls gibt es auch ein, bisher weniger bekanntes, Pendant: das kraftvolle Selbstmitgefühl.

Während das achtsame Selbstmitgefühl, auch Yin-Energie genannt, Menschen befähigt, sich selbst Halt zu geben, wenn sie sich unzulänglich fühlen, stößt die Yang-Eigenschaft des kraftvollen Selbstmitgefühls wichtige Veränderungen an. Und beide Energien antworten auf dieselbe Frage: Was brauche ich, um mein Leiden zu lindern?

In diesem Blogartikel beleuchtet Erfahrungsexpertin Julia Breuer die beiden Seiten des Selbstmitgefühls und schaut sich den Aspekt des kraftvollen Selbstmitgefühls genauer an:

Was bedeutet achtsames Selbstmitgefühl?

Grundsätzlich geht es nicht nur im Selbstmitgefühl um zwei entgegengesetzte Kräfte, sondern auch im Leben. Denn unser Alltag ist ebenfalls geprägt von beiden Energien:

Die Yang-Energie schenkt uns die Kraft und das Durchhaltevermögen zu leisten, zu funktionieren, uns durchzusetzen, zu organisieren, zu optimieren, kreativ zu sein, ins Tun zu kommen, für uns einzustehen. Yang ist eher extravertiert und steht für das Schöpferische.

In der Yin-Energie kommen wir zur Ruhe, lesen ein Buch oder kuscheln mit unserem Lieblingsmenschen. Yin steht für Rückzug und Fülle, ist nährend und eher introvertiert.

Ein wichtiger Teil, uns selbst auch innerlich in der Yin-Energie zu begegnen ist das so genannte achtsame Selbstmitgefühl: Der Begriff umschreibt eine gütige und mitfühlende Art mit uns selbst umzugehen.

Wir alle haben vermutlich die Erfahrung gemacht, dass es uns häufig leichter fällt für andere da zu sein, als für uns selbst. Insbesondere wenn wir schwierige Situationen oder Emotionen zu bewältigen haben; wenn wir kritisiert werden oder uns Fehler passieren. Oft reagieren wir in solchen Momenten mit Selbstkritik, hinterfragen uns mehr als eigentlich hilfreich wäre, machen uns kleiner als wir sind und fühlen uns von anderen abgeschnitten. Und manchmal fühlen wir uns dadurch nur noch schlechter als vorher.

Mit Selbstmitgefühl schenken wir uns selbst die gleiche Güte und Fürsorge, die wir auch einem guten Freund oder einer guten Freundin schenken würden.

Kristin Neff

Achtsames Selbstmitgefühl meint die Fähigkeit uns selbst mitfühlend, tröstend und liebevoll zu begegnen. Der liebevolle Yin-Anteil des achtsamen Selbstmitgefühls besteht aus drei Elementen:

  1. Selbstfreundlichkeit – im Gegensatz zur Selbstverurteilung
Indem wir fürsorglich und verständnisvoll anstatt selbstkritisch mit uns selbst umgehen, üben wir Freundlichkeit und Verständnis mit uns selbst und uns aktiv selbst zu umsorgen und zu trösten.
    Anstatt mit uns selbst verärgert zu sein, trösten wir uns und reichen uns selbst eine helfende Hand, so wie wir es für einen guten Freund tun würden.

  1. Gemeinsames Menschsein – im Gegensatz zur Isolierung 
Gemeinsames Menschsein meint, die eigene Erfahrung als Teil des menschlichen Lebens zu betrachten – und nicht als etwas Unnormales oder Isolierendes.

    Anstatt uns in unserem Erleben einer schwierigen oder belastenden Situation allein und minderwertig zu fühlen, werden wir uns bewusst, dass alle Menschen schwierige Zeiten durchleben und dass uns das Auf und Ab des menschlichen Lebens miteinander verbindet.

  1. Achtsamkeit – im Gegensatz zur Überidentifikation Anstatt eine für uns belastende Situation zu ignorieren oder sich im Katastrophisieren darüber zu verstricken, meint Achtsamkeit, nur wahrzunehmen, dass wir gerade belastet sind, es anzuerkennen und zu erforschen, wie sich dies körperlich und emotional für uns anfühlt.

    Dadurch wird es uns möglich, auch schmerzhafte Gefühle so anzunehmen, wie sie sind und verhindert, dass wir schmerzhafte Gefühle unterdrücken oder vor ihnen davonlaufen.

Das Yin des Selbstmitgefühls umfasst also die Eigenschaft des mitfühlenden „Mit-uns-selbst-Seins“ – uns selbst liebevoll, umsorgend, tröstend und bestätigend zu begegnen.

Im achtsamen Selbstmitgefühl können wir üben, uns so sein zu lassen, und nach und nach ablassen von Streben und Perfektionismus. Daraus kann wiederum eine gewisse Selbstakzeptanz entstehen. Aus dieser Art Regeneration kann eine neue Art der Kraft erwachsen, die weiser und fürsorglicher ist und auch angebunden an unsere Werte.

Kraftvolles Selbstmitgefühl

Mitgefühl muss allerdings nicht immer sanft, weich und passiv sein – im Gegenteil. Auch im Selbstmitgefühl darf und muss es einen Gegenpol geben, den Yang-Teil: das sogenannte kraftvolle Selbstmitgefühl.

Das Yang des Selbstmitgefühls umfasst das „Handeln in der Welt“ – oder die Fähigkeit, klar und weise für uns selbst einzustehen. Denn jeder von uns braucht diese Fähigkeit, um uns selbst in Situationen zu schützen, in der wir Gefahr laufen, verletzt oder ausgenutzt zu werden. Tun wir das nicht, ist unsere Selbstmitgefühls-Praxis unvollständig.

Wir alle kennen mit Sicherheit Situationen, in denen es uns schwerfällt, Grenzen gegenüber anderen zu setzen. Oder dass wir es immer wieder zulassen, dass andere unsere Grenzen überschreiten. Manchmal überschreiten wir unsere Grenzen auch selbst. Oder es fällt uns schwer, für uns selbst einzustehen. Neben unserer Fähigkeit, die Ursachen zu verstehen und unserem Schmerz mitfühlend zu begegnen (dem achtsamen Selbstmitgefühl), brauchen wir auch die kraftvollen Aspekte, um den Schmerz aktiv zu lindern, indem wir:

  • die Verantwortung für unser Wohlbefinden übernehmen,
  • für unsere Wahrheit einstehen,
  • entschlossen sind,
  • uns selbst schützen
  • für uns selbst sorgen,
  • den Mut entwickeln, uns dem zu stellen, was wir vielleicht lieber vermeiden würden.

Bisher gibt es noch keine wissenschaftliche Definition für „Kraftvolles Selbstmitgefühl“.
Eine mögliche Definition wäre, den Mut aufzubringen auf eine aktive Weise für uns zu sorgen. Uns zu fragen: „Was ist das Weiseste, was ich jetzt für mich tun kann?“

Was hat Wut mit unseren Bedürfnissen zu tun und wie können wir ihr gesund begegnen?

„Was brauche ich?“ ist die Kernfrage in der Selbstmitgefühls-Praxis. Und damit sind automatisch unsere Bedürfnisse mit angesprochen.
Wenn bspw. unser Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist, kann das auch mit einer Grenzverletzung zu tun haben. Und dann ist eine gesunde Reaktion darauf wütend zu sein oder ärgerlich (Yang-Energie) und nicht uns selbst zu trösten (Yin-Energie).


Häufig werden wir jedoch so geprägt, dass es nicht angebracht ist, wütend zu sein. Woraus sich dann eine Scham oder Angst vor der eigenen Wut entwickeln kann. Oder wir haben die Erfahrung gemacht, dass Wut in eine destruktive oder aggressive Handlung umkippt.


Dabei ist Wut nur eine Emotion und steht für sich – erstmal ohne eine Handlung, die daraus erfolgt. Wenn wir also achtsam genug sind, können wir diese Emotion im Körper spüren ohne direkt (aggressiv) handeln zu müssen.
Die Wut dient uns als sehr wichtiges Alarmsignal: Sie kann uns einen wichtigen Hinweis geben, wo unsere moralischen, emotionalen oder körperlichen Grenzen liegen.


Sie kann uns auch die Kraft geben, wenn wir sie im Körper wahrnehmen, um auf eine gelassene Art und Weise innerlich Grenzen zu etablieren und sie im nächsten Schritt dann auch im Außen zu kommunizieren. Also die Wahrnehmung: „Ah da ist Wut: Vielleicht geht es darum, mich zu schützen oder für mich einzustehen.“
Die Wut steht uns als innere Kraft zur Verfügung und es ist wichtig, sie auch nicht gegen uns selbst richten.

Im tibetischen Buddhismus wird gesagt, dass jede Emotion, die wir achtsam und mitfühlend wahrnehmen können, eine weise Essenz in sich birgt. In der Wut steckt die Essenz einer brillanten Klarheit und Weisheit.
Einfach die Wut in mir oder in meinem Körper wahrnehmen und mir dann weise zu überlegen, wie ich am besten damit umgehen kann? Das ist häufig leichter gesagt als getan. Die Schritte dorthin sind manchmal etwas kleinteiliger.


Was kann ich also tun?

  1. Erforschen
    Was sind die Anteile, die meine Wut bisher blockiert haben? Also Anteile in mir, die es mir absprechen, dass ich mich verletzt fühle oder wütend sein darf. So etwas wie „Ach, hab dich nicht so.“ oder „Du übertreibst mal wieder.“

    Vielleicht gibt es auch Anteile, die uns innerlich wie betäuben. Ich kenne das bspw. zu gut, dass ich denke, ich müsste jetzt eigentlich wütend sein, spüre aber gar nichts. Oder ich spüre die Wut erst ein paar Tage später, wenn die Situation schon vorbei ist.

    Manchmal sind da Anteile, die uns Angst machen können: Angst vor Bestrafung oder Ablehnung oder Angst vor Scham- oder Schuldgefühlen („Es macht mich zum schlechten Menschen, wenn ich wütend bin.“).

    Uns auf eine „innere Forschungsreise“ zu begeben, auf der wir die Anteile kennen lernen, die unsere Wut in Schach halten, kann sehr spannend und erhellend sein.

  1. Wertschätzen
    Diese Anteile, denen wir auf unserer „Forschungsreise“ begegnen waren durchaus hilfreich für uns, sonst hätten wir sie nicht entwickelt. Deshalb ist es auch wichtig, ihnen Wertschätzung entgegen zu bringen und uns bei ihnen zu bedanken.

  1. Wahrnehmen & Hinterfragen
    Indem wir auch diesen Anteilen mit Wertschätzung und Mitgefühl begegnen, entspannen sie sich ggf. etwas. Und vielleicht wird dadurch der Weg frei, die eigene Wut im Körper zu spüren und in den Dialog mit der Wut zu gehen. Und zu hinterfragen: „Was möchtest du mir zeigen, was ich noch nicht gesehen habe?“

    Vielleicht erhalten wir dann wichtige Informationen über unsere Grenzen, die wir vorher ggf. noch gar nicht kannten. Oder über Menschen die uns weniger guttun.

  1. Handeln
    Wenn wir mit uns selbst in den Dialog gehen, können wir Einsichten bekommen, die wir für zukünftige Situationen in Form einer weisen Handlung nutzen können: Indem wir uns nicht abwenden, dableiben, für uns einstehen oder uns für etwas einsetzen.

Was können wir tun, um (mehr) kraftvolles Selbstmitgefühl zu etablieren?

Nicht selten ist da eine große Angst davor, nicht mehr gemocht oder ausgeschlossen zu werden, wenn wir klar für uns einstehen und unsere Meinung sagen. Aus dieser Angst heraus, wählen wir dann lieber, still und angepasst zu bleiben. Diese Angst hindert uns daran, unsere Wahrheit auszusprechen und dafür einzustehen.

Was dann hilfreich sein kann ist, ein Vorbild zu haben: Ein Mensch, der dieses Sanfte und Kraftvolle, diese Unbeirrbarkeit und Gerechtigkeit lebt (oder gelebt hat). Der aber auch für Fürsorge steht und dafür, sich für das Wohl Anderer einzustehen. Das gibt unserem Geist eine Orientierung, insbesondere in so einem Moment, in dem es für uns schwierig wird, zu unserer Wahrnehmung und unseren Grenzen zu stehen. So können wir uns von diesem Vorbild bestärkt und unterstützt fühlen.

Der andere Aspekt ist, dass wir beginnen, uns anderen anzuvertrauen. Den Mut zu haben mit anderen darüber zu sprechen, wie es uns geht, was uns belastet. Das führt zu Solidarität und gibt uns ebenfalls Kraft. So fühlen wir uns weniger alleine mit unserer Wahrnehmung.

In dem Moment, in der wir uns die Achtung selbst geben und unsere Grenzen auch aussprechen, können wir klar erkennen, wie uns unser Gegenüber gesonnen ist. Das kann manchmal schmerzhaft sein und auch sehr erhellend.

Und daraus kann wiederum ein ganz neuer Dialog entstehen. Wenn man einander wohl gesonnen ist, kann Verbundenheit entstehen, obwohl man unterschiedlicher Meinung ist.

Reflexionsfragen

  • In welchen Situationen (beruflich oder privat) fällt es dir schwer für dich einzustehen und dich zu schützen?
  • Welche Eigenschaften wären dir in diesen Situationen hilfreich?
  • Von welchen wünschst du dir in diesen Situationen mehr? z.B. Mut, Stärke, Klarheit, Ausdauer?
  • Wer verkörpert für dich diese Eigenschaften? Wer wäre ein gutes Vorbild oder ein guter Ratgeber für dich? Das kann ein menschliches Wesen sein, eine öffentliche oder historische Figur oder eine fiktive Figur aus einem Buch oder Film.

Gedicht: Das Gasthaus

Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus

jeden Morgen ein neuer Gast.



Freude, Depression und Niedertracht,

auch ein kurzer Moment der Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.



Begrüße und bewirte sie alle!

Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist
die gewaltsam Dein Haus

seiner Möbel entledigt.
Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll
vielleicht reinigt er Dich ja

für neue Wonnen.


Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Wut-
begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu dir ein.



Sei dankbar für jeden, der kommt
denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.

— Jellaludin Rumi, 1207-1273

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Brähler, C.: Kraftvolles Selbstmitgefühl – Der kleine Selbstcoach. Scorpio, München 2022

Neff, N.: Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen. Klar für sich selbst einstehen, engagiert handeln und Erfüllung finden. Kailash, München 2022

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