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Gastbeitrag: Brief an meine Depression

Als Frauke im Sommer 2013 die Diagnose „mittelschwere bis schwere Depression“ bekam, war sie im tiefsten ihrer Tiefs. In den letzten 6 Jahren gab es einige Aufs und Abs mit ihrer Depression.

Auf ihrem Blog „Fräuleins wunderbare Welt“ erzählt sie von ihrem Alltag mit ihrer Krankheit.
Heute ist Frauke bei uns zu Gast. Zum 6. Jahrestag hat Frauke ihrer Depression einen Brief geschrieben, den sie heute mit Ihnen teilt.

(Update März 2021: Frauke hat sich entschieden, ihren Blog Ende 2020 zu schließen.)

Liebe Depression,

herzlichen Glückwunsch zu unserem 6. Jahrestag!
Ja, so lange kennen wir uns nun schon. Weißt noch, wie ich damals am 22. Juni 2013 wie ein Schatten meiner selbst beim Arzt saß?

Ich kam gerade vom Wanderurlaub im Bayerischen Wald und eigentlich war mein Urlaub an dem Tag zu ende. Doch es ging nicht, du warst so stark und so mächtig. Am Ende vom Urlaub hatte ich gemerkt, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte, sondern erst einmal Hilfe brauche.

Mein Hausarzt war selbst im Urlaub und so saß ich bei seiner Vertretung.

Erinnerst du dich an die kalten Augen und die emotionslose Stimme des Arztes?

Während ich heulend vor ihm zusammen brach und ihn um Hilfe bat, um aus diesem ständigen Gedankenkreisen, den Alpträumen, dem Herzrasen, der inneren Unruhe, dem immer mehr werdenden sozialen Rückzug, der Antriebs- und Emotionslosigkeit heraus zu kommen. Ich wollte so gerne wieder Farben und Gerüche wahrnehmen. Der Arzt blickte mich kalt an und teilte mir die Diagnose mit: „mittelschwere bis schwere Depression“. Seitdem hast du einen Namen. Seitdem weiß ich, was mich die Monate oder eher schon Jahre davor so fertig gemachte hatte. Seitdem bist du offiziell ein Teil meines Lebens!

Die Kennenlernzeit mit dir fiel mir nicht immer leicht. So ein richtiges erstes Date hatten wir ja nicht. Vielmehr warst du irgendwie schon ziemlich lange da, ohne dich mal vorgestellt zu haben. Du hattest dich langsam in mein Leben geschlichen.

Doch plötzlich bekamst du vor 6 Jahren einen Namen: Depression.

Ich lag wortwörtlich am Boden und war nicht mehr ich selbst. Dafür hast du einen zu großen Raum in mir drin eingenommen. Du hattest dich in meinem Leben eingenistet ohne dass ich es lange Zeit bemerkt hatte.

Oder wollte ich es nur nicht merken? Wer spürt schon gerne eine Schwäche? Angst vor etwas? Wer kann seine Bedürfnisse in Worte fassen? Oder wer sagt schon einfach mal „Nein!“, wenn er keine Kraft mehr hat und jemand anderes gerade Hilfe braucht. Na, ich bestimmt nicht.

Doch weißt du was? Dank dir habe ich genau das alles gelernt.

Ich musste, weil es einfach nicht mehr anders ging.

Es gab Zeiten, da wollte ich dir und mir ein Ende setzen. Warum weiterleben, wenn alles ohne Sinn, ohne Hoffnung ist?

Doch es gab auch bessere Zeiten mit dir. Erinnerst du dich an all die kleinen und manchmal sogar großen Fortschritte, wo ich mit Hilfe meiner Therapeutin gelernt habe, ein Gefühl für meine Bedürfnisse zu entwickeln? Wo ich endlich mal Wut zulassen konnte? Wo ich tief verankerte Glaubenssätze und Verhaltensmuster enttarnt habe und mich darauf konzentrierte, diese negativen durch positve zu ersetzen? Wo ich sogar gelernt habe, „Nein!“ zu sagen, wenn ich gerade keine Hilfe leisten kann?

Klar, du erinnerst dich noch viel mehr an all die kleinen Rückschritte. Diese ganze Arbeit an meinem Seelenleben, an meiner Wahrnehmung und an meinem Verhalten, das war so anstrengend und hat mich häufig an meine Grenzen gebracht. Doch die Rückschritte wurden weniger.

Nach und nach wurdest du schwächer und ich mehr und mehr zu mir selbst.

Zu der Person, die heute diesen Brief an dich schreibt. Es mag vollkommen verrückt klingen, aber ohne dich wäre ich nicht ich.

Dank dir habe ich gelernt genauer hinzuschauen und nicht einfach nur zu reagieren, wenn etwas passiert oder jemand etwas von mir möchte. Dank dir habe ich viele neue Freunde kennengelernt, tolle neue Hobbies ausprobiert und dank dir bin ich seit 5 Jahren stolze Hundemama.

Weißt du was? Ohne dich wäre ich ein fremdbestimmter Mensch. Wahrscheinlich wäre ich nicht sonderlich unglücklich. Aber ich wäre auch nicht glücklich! Ich hätte so viele Facetten von mir selbst gar nicht entdeckt. Du hast mein Leben bereichert, auch wenn ich uns beide wegen dir fast umgebracht hätte. Das klingt paradox, aber es ist so.

Ich wünsche niemandem eine Krankheit wie dich. Du bist sehr stark und mächtig.

Du veränderst das Denken, die Wahrnehmung, die Gefühle und das Verhalten. Bei jedem Menschen ist eine Depression anders und wirkt sich anders aus. Nicht jeder hat die Kraft, sich mit seiner Depression auseinander zu setzen und so viel in seinem Leben zu hinterfragen.

Doch in meinem Leben bist du mittlerweile ein wichtiger Abschnitt. Ich schreibe bewusst „Abschnitt“, weil ich hoffe, dass du irgendwann Lebewohl zu mir sagst und deine weitere Zukunft außerhalb meines Alltages verbringst. Aber bis dahin passt du auf mich auf. Immer, wenn ich anfange mich und meine Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren, wenn ich unbewusst in alte Verhaltensmuster rutsche und mich wieder einmal überfordere, dann bist du da.

Du erinnerst mich immer rechtzeitig daran, dass ich nicht wieder so extrem selbstlos werde wie ich früher einmal war.

Das machst du nicht sonderlich freundlich, aber es ist sehr effektiv.

Hätte mir jemand vor 6 Jahren gesagt, dass du solange bei mir bleibst, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Es ist echt langer Zeitraum!

Nun habe ich überlegt, was ich dir zu unserem 6. Jahrestag schenken könnte. Blumen oder Schokolade magst du ja nicht sonderlich. Die sind dir zu positiv. Aber was hältst du davon, wenn du mal etwas Urlaub machst? Ich spendiere dir eine Reise an einen Ort deiner Wahl. Wer so viel arbeitet, muss schließlich auch mal Urlaub machen, nicht wahr? Ich verspreche auch, währenddessen gut auf mich aufzupassen! Ehrlich, versprochen! Dank dir bin ich ja mittlerweile ganz gut da drin!

Alles Liebe,
deine Frauke